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Thursday, September 07, 2006

Ein Junge namens Archie

Ein Junge namens Archie

In einem kleinen Dorf lebte ein unscheinbarer Junge namens Archie. Er war nicht besonders groß, nicht besonders stark und auch nicht besonders bekannt. Ein ganz gewöhnlicher Junge halt. Archie bestritt seine Tage damit, mit Puppen zu spielen, die kleiner waren als er und die ihm nicht widersprechen konnten. Das größte für ihn war, wenn sein Hund ihm gehorchte und bei Fuß neben ihm herlief.
Schon in der Schule verstand er es, seinen vermeintlichen Freunden nur halbe Wahrheiten zu erzählen und seine Schwächen nicht nach außen dringen zu lassen, um seine Beliebtheit und seine Stellung in der Klasse zu steigern und sich gleichzeitig seine Mitschüler auf Distanz zu halten. Denn Nähe war ihm schon immer unangenehm. Archie wurde Klassensprecher und man konnte fast meinen, dass selbst die Lehrer ihm unterlagen. In der Tat, Archie verstand es, seine Mittel zu seinem Vorteil einzusetzen und dabei den Anschein aufrecht zu erhalten, er täte es im Wohle seiner Klasse. Doch längst war Archie mehr geworden als die Klasse, er stand über ihr und hielt seine Stellung.
Im Studium spielte er dasselbe Spiel, nur professioneller, um die Gunst der Professoren zu erlangen und den anderen weit voraus zu sein. Strebsam war Archie, plante sein Imperium mit blutigem Eifer und Gewissenhaftigkeit. Er war sein Imperium, er der Anführer, er die Organisation und er verlieh ihm Struktur.
Archie hatte es geschafft. Seine Firma wuchs und mit jedem Atemzug den er in die Firma hauchte und sie somit zum wachsen brachte, stieg seine Stellung in beinahe unermessliche Höhen. Die Nähe zu anderen war ihm, wie schon in seiner Kindheit, zuwider. Doch dort ganz oben an der Spitze hatte er sie nicht zu befürchten. Er hielt die Fäden in der Hand und lenkte seine Marionetten von oben herab. Seine Durchtriebenheit, sein Kalkül und die Liebe zur Distanz perfektionierten das Spiel mit den Puppen an seinen Fäden, die ihm nicht widersprachen, da sie zu viel Respekt vor ihm und seiner Unnahbarkeit hatten. Keiner wusste ihn einzuschätzen, keiner wagte es ihn anzuzweifeln, keiner kannte ihn, doch alle folgten seinen Anweisungen wie die Hunde ihrem Herrchen, wenn es bei Fuß ruft. An seinen Fäden tanzten sie nach seiner Pfeife. Archie genoss es, immer höher stieg er empor, immer größer wurde die Distanz zur Nähe, zur von ihm ach so verhassten Nähe zu seinen Mitmenschen, die nur noch Puppen für ihn waren, klein und unscheinbar.
Doch Archie hatte gerade hiermit einen großen Fehler in seinem Imperium begangen. Eines Tages hauchte er einen tiefen Atemzug aus, er was aufgestiegen und hatte sich zu seinen Marionetten so weit entfernt, dass die Stricke seines Netzwerkes, die Fäden, die er in der Hand hielt und die ihm alle Kontrolle gaben, der großen Spannung nicht mehr standhalten konnten. Die Fäden vermochten die Distanz zur Nähe nicht mehr zu überbrücken, wurden immer dünner und rissen schließlich entzwei. So waren Archie die Marionetten aus den Händen geglitten, sein Netzwerk zusammengebrochen, seine Kontrolle dahin. Er stürzte, stürzte tief, raste zu auf die ihm so verhasste Nähe, entfernte sich immer weiter, immer mehr von der Distanz und sah die Hunde bellen und wild umherlaufen, seine Puppen nahmen immer menschlichere Züge an, je näher er ihnen kam und sie redeten immer lauter. Er hörte ihre Stimmen, ihre ohrenbetäubenden Rufe, ihre bohrenden Fragen, ihre bedrückende Nähe, ihre Menschlichkeit. Doch sie fingen ihn nicht auf, Archie zerschellte am Boden der Realität. Archie konnte sie nicht ertragen, diese Nähe, diese Menschen, die so menschlich waren und ihm das Gefühl von Nähe vermittelten. Sie hatten seine Schwächen erkannt und den Archie, der nun nicht mehr unnahbar war. Sie gehorchten nicht mehr, sie widersprachen. Archie war nun nicht mehr der, der er war, den er geplant und konstruiert, geschaffen und erbaut hatte. Archie war nun nur noch ein Mensch auf dem Boden des wirklichen Lebens, einer unter vielen. Archie konnte diesen Zustand nicht ertragen, er wollte die Nähe nicht sehen und wurde blind. Er hörte die Hunde und die Puppen schreien, wie sie ihm den Weg wiesen, „hier Archie, Hier archie, Hierarchie“, und ihn an seinen Fäden durch sein Dorf führten.

Annette Schweinzer
19.05.06
10.55 Uhr

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